Für den Gott des Weines und der Ekstase, der Menschen in die Fähigkeit zur Freude und Entgrenzung führt, findet Markus Lüpertz wieder einen neuen Ausdruck. Heiter, beseelt und wissend zeigt sich dieser Dionysos. Er findet in Lüpertz’ Werk seinesgleichen: Immer wieder umkreist der Künstler die griechischen und römischen Götter und Helden, findet Bildnisse von Herkules, Poseidon oder eben Dionysos. „Die Antike ist die Mutter unserer Kultur. Sie prägt unser Maß, unser Harmonieverständnis“, sagt er. Unsere Vorstellung von Schönheit habe sich im Betrachten griechischer Skulpturen gebildet, unser Wissen um Verletzlichkeit im Angesicht der Torsi, der Statuen, die nur in Teilen erhalten sind und den Betrachter dazu zwingen, sich dem unvollständigen, dem verwundeten Körper zu stellen. Der Dichter Rainer Maria Rilke war vom Torso einer Apollo-Statue so beeindruckt, dass er sich unmittelbar von ihm angesprochen und sogar zu einer Umkehr aufgefordert fühlte: „Du musst dein -Leben ändern!“
Rilke schrieb dies 1908, in einer Zeit, als die Hymne des Philosophen Friedrich Nietzsche auf das Dionysische und Apollinische in der europäischen Geistesgeschichte nachklang. Dionysisch ist für Nietzsche das entgrenzende, das leidenschaftliche, das feurige Prinzip, apollinisch dagegen das ordnende Element, das Gestalt und Form gibt. Aus dem Zusammenspiel von beiden entsteht Kunst, wird die Tragödie geboren, werden Musik und Theater geschaffen.
Es ist verführerisch, angesichts der Bilder, Bozzetti und der Skulptur des neuen Dionysos von Lüpertz bei Friedrich Nietzsche nachzuschlagen, der in rauschhaft-poetischem Stil in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ die beiden Seinsweisen „Dionysisches“ und „Apollinisches“ einander gegenüberstellt. Das Apollinische nennt er „den Schönheitstrieb“, der entsteht, wenn Leid überwunden wird. „Die ganze Welt der Qual“ sei nötig, „damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde“. Erst dann könne er, zumal als Künstler, „ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres“ sitzen, Ruhe finden, nachdem er sich dem Unglück und den Abgründen gestellt habe.
Mit Mäßigung das Leid überwinden, ist der Weg des apollinischen Prinzips. Zu seiner Vollendung braucht es aber das Gegenstück, eben das Dionysische. In ekstatischen Feiern trete das ins Leben, so Nietzsche:
„,Titanenhaft‘ und ‚barbarisch‘ dünkte den apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: Sein ganzes Dasein, mit aller Schönheit und Mäßigung, ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntnis, der ihm durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus (Nietzsche schreibt Dionysus!) leben! Das ‚Titanische‘ und das ‚Barbarische‘ waren zuletzt eine ebensolche Notwendigkeit wie das Apollinische.“
Auseinandersetzung mit der Idee von Skulptur, mit der Idee von Malerei
Entgrenzung und Maß wirken aufeinander ein. Was in Nietzsches Worten, nicht immer verständlich, opernhaft schön klingt, ist auch die Erfahrung aller Künstler: Sie können und müssen sich freilassen, um sich dann wieder den Bedingungen des Irdischen zu unterwerfen. Mit den verschiedenen Deutungen der Antike in Literatur und Philosophie hat Lüpertz sich beschäftigt. „Das durchzieht mein Werk – Auseinandersetzung mit der Idee von Skulptur, mit der Idee von Malerei.“ Nietzsches „Geburt der Tragödie“ ist in deutscher Sprache eine der schönsten Darstellungen antiken Wesens.
„Das Genie muss über seine Gebrechen siegen“, beschreibt Lüpertz sein Menschenbild. In seiner Mozart-Skulptur für den Ursulinenplatz in Salzburg machte er die Haltung sichtbar: Mozart hat einen Frauenkörper – „Die Musik ist weiblich“, findet Lüpertz – und nur einen Arm. Als Mensch sei er eben unvollständig, gebrechlich. Das Gesicht der Skulptur aber zeige Mozarts Stärke: „Es ist meine Vorstellung von einem wichtigen, großen, intelligenten und genialen Kopf.“ Nicht alle, die sie betrachten, erkennen das in der Statue. So bleibt sie umstritten wie etliche Werke von Lüpertz im öffentlichen Raum.
„Er riskiert viel, ist wirklich jemand, der immer wieder etwas Neues in Angriff nimmt, manchmal gehts daneben, aber meistens findet er dabei eine überzeugende Lösung“, sagt der Kunsthistoriker Professor Armin Zweite, der unter anderem Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen war (1990 bis 2007) und Werke von Lüpertz für etliche Museen erworben hat. „Er möchte unter keinen Umständen Routinier werden. Er muss immer wieder das, was er gerade gemacht hat, aufbrechen, infrage stellen, neu formulieren“ so Zweite weiter. Er hält diesen Mut für „außergewöhnlich in unserer Zeit“.
Dem Zeitgeist passt sich Markus Lüpertz nicht an. Zum Beispiel arbeitet er – anders als die meisten Maler und Malerinnen der Nachkriegszeit – nicht ausschließlich abstrakt. Auch das schätzt Armin Zweite: „Er sagte einmal, man müsse Max Beckmann und Ernst Wilhelm Nay verbinden, ausdrucksstarke Gegenständlichkeit mit der Abstraktion, die ihre Komposition und Farben wirken lässt. Für Markus Lüpertz zählt immer das Bild als optischer Eindruck, mal wuchtig, immer rhythmisch, meist stark in den Farben.
Als deutscher Maler der Nachkriegszeit hat er sich mit Krieg und Nationalsozialismus beschäftigt und auch da seinen eigenen Zugang gefunden. Wenn ein 14 Meter langes Gemälde „Westwall“ heißt, so stellt er das Panzer-sperren-Bauwerk als ästhetisches Phänomen dar. Auch einige Stahlhelme versammelt er auf einem Bild. Das irritiert. Ist keine geradlinige Antikriegskunst. Vielleicht sind die Helme hingeworfen, vielleicht die einzigen Überbleibsel toter Soldaten? Darf man sie als Form schön finden? Fragen, die Betrachter selbst beantworten müssen und können.
Seinen Anspruch an einen Künstler, der sich mit Nationalsozialismus und Krieg auseinandersetzt, beschreibt Lüpertz in einem Gedicht:
Er muss seine gebrochenen Flügel,
seinen Hass auf diese Hölle, /…/
verbinden mit der Verpflichtung auf Ewigkeit.
Der Künstler /,../ ist der Qualität verpflichtet.
Und sie ist die Gewähr,
dass die Mahnung in seinem Werk überdauert.
Markus Lüpertz ist 80 geworden
In Liberec in der damaligen Tschechoslowakei wurde Markus Lüpertz am 25. April 1941 geboren, zog mit seinen Eltern aber ins Rheinland, nach Rheydt bei Mönchengladbach, als er sieben Jahre alt war. Schon bald ging er eigene Wege: „Mit 15 verließ ich mein Elternhaus, flog von allen Schulen, selbst meiner geliebten Düsseldorfer Kunstakademie, und mit 30 war ich Professor!“ Erstaunt, schmunzelnd und immer noch erfreut spricht Markus Lüpertz von seiner frühen Karriere. Künstler wollte er von klein auf werden, nichts anderes. Zunächst sollte er handwerkliches Geschick erwerben in der Ausbildung bei einem Maler von Flaschen-Etiketten.
Das kleine Format aber hielt ihn nicht lange. Er galt als unbegabt. Pech damals, ein Glück im Nachhinein. Jetzt war Lüpertz’ Weg zur künstlerischen Ausbildung frei. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, führte ihn in die Tiefe, unter Tage in ein Kohlebergwerk. Seine Vorstellung vom Leben als Bergmann sei romantisch gewesen, erzählt er. Zudem habe ihn die Biografie von Vincent van Gogh angeregt. Auch der habe unter Tage gearbeitet. Lüpertz’ Suche nach Vorbildern begann schon früh. Kaum war der Kohlestaub von den Händen gewischt, zog neue Abenteuerlust Markus Lüpertz nach Südfrankreich. In die Fremdenlegion. Kurz bevor aus diesem Streich aber allzu bitterer Ernst wurde, entkam er dem drohenden Einsatz für Frankreich im Algerienkrieg.
Malerei ist die Königsdisziplin
In der Werkkunstschule in Krefeld begann er dann seine künstlerische Ausbildung. Ein Glasmaler führte ihn ins Kloster Maria Laach. Dort hatte Markus Lüpertz Gelegenheit, den Grundstein für seine Bildung zu legen. Die Bibliothek und die Leidenschaft und Freude der Mönche an Literatur, am Geistesleben steckten ihn an und prägen ihn bis heute. In seiner „heiß geliebten Kunstakademie Düsseldorf“ wird Lüpertz Professor und von 1988 bis 2009 ihr Direktor.
Über alle Veränderungen seines Lebens hinweg aber bleibt Lüpertz Maler. Den Schaffensprozess erlebt er immer wieder als harte, vor allem einsame Arbeit. Mit jedem neuen Werk trete er in Beziehung zur gesamten Malerei. „Es gibt nichts Einsameres, als vor dieser weißen Leinwand zu stehen und sich mit 2.000 Jahren Kultur und Malerkultur, mit Farbe und der riesigen Konkurrenz all dessen, was bisher gemalt worden ist, zu konfrontieren“, sagt er. „Ob es die Las Meninas von Velázquez sind, ob es Guernica von Picasso ist – man hat ja Giganten vor sich!“ Da die Malerei „die Königsdisziplin“ der Kunst sei, wolle und müsse er mit jedem neuen Bild in diesem historischen Beziehungsgeflecht einen eigenen Platz erringen. Kunsthistoriker Armin Zweite schätzt an Markus Lüpertz gerade, dass er sich mit den Künstlern der Geschichte intensiv beschäftigt, sie mal persifliert, mal umdeutet, immer neu formuliert.
So arbeitet er weiter, denkt auch mit 80 nicht daran, sein Werk schon als abgeschlossen zu betrachten. Täglich steht er im Atelier, Spachtel in der Hand, weißen Gips an den Fingern. „Meine Arbeit ist schmutzig, deshalb ziehe ich mich danach gern schön an.“ Große Keramiken entstehen gerade, etwa für die U-Bahn in Karlsruhe. Für seine Wegbegleiter und vor allem sein Publikum, für diejenigen, die ihn als Künstler – Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter –, als Freund, als Zeitgenossen und markante Persönlichkeit schätzen, sogar verehren, ist der runde Geburtstag am 25. April aber ein Anlass, Lüpertz’ vielseitiges Werk und kontrastreiches Leben zu betrachten. Er selbst fragt sich manchmal, wie sein Werk überdauern wird, was die Maler in 200 Jahren von ihm denken werden. Über beide Aspekte des Seins, über Gegenwart und Ewigkeit, hat er ein Gedicht geschrieben:
An einem guten Tag
werden wir immer vergessen,
dass wir sterben müssen,
aber immer auch,
dass wir ewig sind.