EIN BILD FÜR BILD: Ilya und Emilia Kabakov

Veröffentlicht am 15. Mai 2017, aktualisiert am 13. Januar 2022 unter Ilya und Emilia Kabakov, Kunstwerke

Der hundertste Jahrestag der Oktoberrevolution war in Russland kein Anlass zu großer Feier. Er wurde geradezu mit Schweigen bedacht. Fraglos galt es zu vermeiden, alte Dämonen zu wecken und die Jugend auf Gedanken zu bringen? In der UdSSR der 70er und 80er Jahre war die rote Fahne allgegenwärtig und stets begleitet von Schlagwörtern, die eine strahlende Zukunft verhießen, an die niemand mehr wirklich glaubte.

Ilja Kabakov – der 1992 zu seiner Ehefrau Emilia in die USA zog und seither gemeinsam mit ihr für die Werke verantwortlich zeichnet – kannte diese Verhältnisse und legte die Hand auf die konkrete Realität einer kleinkrämerischen Bürokratie, die, um nur ein Beispiel zu nennen, dem Elend der kommunalen Wohnungen mit einer Anhäufung von Vorschriften, Listen, moralischen Empfehlungen und Protokollen begegnete. Sein genialer Schachzug: Er versuchte sich nicht durch frontale Angriffe und offene Kritik wider das Regime zu stellen, sondern bediente sich höchstgradiger Ironie. Seine Gemälde – und später seine Installationen – beschreiben lediglich mithilfe der an den Akademien gelehrten post-cézanneschen Technik den Alltag des Sowjetlebens. Kabakovs Anverwandlung sowjetischer Bildsprachen und Ausdruckungsformen speist sich aus einer tiefen Reflexion über die Gefahren und Abwege des Sozialismus. Gebrannte Kinder, was die Fehlentwicklungen des sowjetischen Kommununismus betrifft, stellen sich Ilja und Emilia Kabakov heute Fragen über die Revolution.

Jede neue Generation denkt Veränderung in Gestalt von Revolution, nicht Evolution. Scharen junger Leute beflügelt die Hoffnung, eine gerechtere Welt zu erbauen, und sie schwingen die rote Fahne, Symbol der Freiheit und des Endes der Unterwerfung unter einen Tyrannen oder das Geld. Die jungen Revolutionäre werden getragen von ihrem Ideal und halten sich fest an ihre Fahnen, um neuen Horizonten entgegenzufliegen.

Ein jeder ergreift seine Fahne wie ein Künstler, der sein mit der Vergangenheit aufräumendes Manifest schwingt. Die moderne Kunst entstand im Takt donnernder Erklärungen, flammender Proklamationen und markiger Manifeste. Sie alle verkündeten eine neue Ära, die den Bruch mit der alten Welt besiegeln würde. Dem Künstler steht es frei, eine formale Revolution zu vollbringen, indem er mit seinem Werk eine neue Weltanschauung darlegt. Individuen in großer Zahl dazu zu bewegen, sie zu teilen, ist jedoch weitaus schwieriger. Revolutionen sind langsam und langwierig, brauchen manchmal ein oder zwei Jahrhunderte, bis sie Gestalt annehmen – was der Lebensdauer einer Schildkröte entspricht. Die Schildkröte lebt um so länger, je langsamer sie ist und je mehr sie sich schont, weshalb sie auf chinesischen Grabmalen die Unsterblichkeit versinnbildlicht, auf der eine Stele errichtet wird.

Die visuelle Rhetorik der Sowjetkultur bevorzugte in ihrer Bildsprache die aufsteigenden Diagonalen, die den Vorwärtsmarsch zu einem in himmlischen Höhen angesiedelten Ideal anzeigen. Doch folgen die Fahnenträger und die Schildkröten einem gefährlich abschüssigen Pfad, der wenig Gutes verheißt.

Ein Text von Jean-Hubert Martin








Ilya & Emilia Kabakov
On The Way to Communism

Entstehungsjahr: 2017
Technik: Siebdruck
Blattformat (HxB): 69 x 51 cm
Motivformat (HxB): 56 x 39,5 cm
Auflage: 100 arab. num. Exemplare zzgl. 20 AP

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