Katharina Sieverding Ausstellung: Die Göttliche (ART Magazin)

Veröffentlicht am 27. Februar 2018, aktualisiert am 18. Oktober 2021 unter Katharina Sieverding, Presse

Mit den mächtigen fotografischen Selbstporträts »Die Sonne um Mitternacht schauen III/196« eroberte Katharina Sieverding in den Siebzigern eine männliche Bastion – und inszenierte sich als Vorbotin einer neuen Zeit.

KATHARINA SIEVERDING, DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN I I I/196, 1973

KATHARINA SIEVERDING, DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN I I I/196, 1973

So blicken eigentlich nur Halbgötter aus dem Totenreich zurück: mit ebenmäßigen, in Gold getauchten Zügen, die alles Menschliche in sich zu vereinen scheinen. In diesem Antlitz liegt gleich viel Männliches und Weibliches und dazu die ausdruckslose Güte eines Spiegels, der uns einen flüchtigen Blick in die nächste Welt gewährt. Es leuchtet auf uns herab wie eine milde Sonne, auf die man schauen kann, ohne das Augenlicht zu verlieren.

Als Katharina Sieverding 1973 ihr Gesicht wie die goldene Totenmaske des Pharaos Tutanchamun inszenierte, war sie vom altägyptischen Gottkönig so weit entfernt wie jeder andere Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf. Aber die Selbstdarstellung als androgynes Mischwesen hatte Sieverding schon geübt. Während des Studiums arbeitete die 1944 in Prag geborene Künstlerin hinter dem Tresen einer Düsseldorfer Altstadtkneipe und trat beinahe jeden Abend in einer neuen, zwischen den Geschlechtern changierenden Kostümierung auf. »Irgendwann«, so Sieverding, »wurde ich von einem der Typen an der Bar gefragt, wie ich heiße, und ich sagte ›Karl‹.«

Aus ihrer Doppelexistenz als Karl und Katharina schuf Sieverding dann ein Schlüsselwerk der modernen Kunstgeschichte. Sie puderte ihr Gesicht mit Goldstaub aus dem Theaterfundus des »Crazy Horse«, fotografierte sich mit einer Polaroidkamera und machte diese Aufnahmen zum Ausgangsmaterial ihrer Serie Die Sonne um Mitternacht schauen III/196: 56 überlebensgroße Selbstporträts, 28 gespiegelte Diptychen, auf denen nichts als das angeschnittene, den Rahmen komplett ausfüllende und dem Betrachter frontal zugewandte Gesicht der Künstlerin zu sehen ist. Der Goldstaub wirkt wie eine Maske, die jede Regung verbirgt, und da auch die Attribute der klassischen Porträtkunst, Kleidung und Umgebung, fehlen, wird Sieverdings Gesicht hier zu so etwas wie einer absoluten Idee. Mit ihm beginnt und endet ihre Kunst.

Es ist schwer zu sagen, was 1973 die größere Provokation darstellte: dass die nicht einmal 30-jährige Sieverding sich selbst, ihr Gesicht, zum Kern ihres künstlerischen Schaffens machte. Oder dass sie gar nicht erst versuchte, sich, wie etwa der große Rembrandt, zu erforschen, sondern ihre Selbstporträts lediglich mit der Aura antiker Herrscher auflud, um sie zu entleeren. Auf den Goldbildern erfahren wir wenig über die abgebildete Frau, aber sehr viel darüber, welch herausragende Bedeutung das Gesicht für das menschliche Selbstverständnis hat. Sieverding wagte also nichts weniger, als sich selbst zur Projektionsfläche der Kunstgeschichte, ja der Gesamtheit der menschlichen Kommunikation zu machen.

MUSEUM LUDWIG IN BUDAPEST 2006: DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN III/196, 1973

MUSEUM LUDWIG IN BUDAPEST 2006: DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN III/196, 1973

Sowohl kulturhistorisch als auch anthropologisch lässt sich die Bedeutung des Gesichts kaum überschätzen: Am Spiegelbild erkennen wir uns selbst und unsere Gegenüber am Gesicht. Das Gesicht steht im Zentrum der menschlichen Kommunikation, und natürlich wussten die Menschen seit jeher, dass Gesichter trügen können – entweder weil sich der andere verstellt oder weil wir seinen Ausdruck missverstehen. Außerdem verändert sich die Mimik in einem fort, sodass man nie wirklich wissen kann, welches der vielen Gesichter eines Menschen das wahre ist. Die Kunst schien eine Lösung für dieses Problem anzubieten, indem sie das lebendige Antlitz im richtigen Moment einfror und so lesbar machte. Aber auch diese Lösung war trügerisch: Um das Gesicht entziffern zu können, musste die Kunst das Leben anhalten – und um der Wahrheit willen täuschen.

Dieser Zweifel begleitet die Porträtkunst bis heute und machte das Selbstporträt zur Königsdisziplin der Malerei. Diente das Selbstbildnis im Mittelalter noch vornehmlich als Visitenkarte, mit der Maler zeigten, wie gut sie das Handwerk der Nachahmung verstanden, wurde es mit dem Aufstieg der Künstler zu bewunderten Genies zum wesentlichen Bestandteil eines Starkults. In Extremform schlug sich diese Wandlung bei Albrecht Dürer nieder, der sich auf seinem berühmten Selbstbildnis im Pelzrock (1500) so malte, wie es sonst Jesus Christus vorbehalten war: das Bildformat füllend und dem Betrachter frontal zugewandt.

KUNSTHALLE GIESSEN 2015: O. T. I, 1996, 300 X 500 CM (PIGMENTTRANSFER AUF METALL); DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN SDO/NASA (BLUE), 2010/13 (FILMPROJEKTION)

KUNSTHALLE GIESSEN 2015: O. T. I, 1996, 300 X 500 CM (PIGMENTTRANSFER AUF METALL); DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN SDO/NASA (BLUE), 2010/13 (FILMPROJEKTION)

Mit ihren Fotoserien führte Katharina Sieverding diese Tradition fort, um sie ins Monumentale zu vergrößern und gleichzeitig zu vervielfältigen. So zeigte sie, dass die Vorstellung einer unwandelbaren Identität eine Konstruktion ist, und zwar eine, die es aus ihrer Sicht zu überwinden gilt. Anfang der siebziger Jahre war das ein doppelter Akt der Emanzipation: Zum einen beanspruchte Sieverding einen Platz in der Ahnenreihe männlicher Genies. Und zum anderen setzte sie sich von der feministischen Fixierung auf den Körper ab. Sieverding wollte die Frage nach der weiblichen Identität nicht auf das Geschlechtliche reduzieren, sondern ins Kosmische erweitern. Mit ihrem Serientitel Die Sonne um Mitternacht schauen zitierte sie ganz bewusst den Anthroposophen Rudolf Steiner (1861 bis 1925), der in der Sonnenverehrung einen der vier »Einweihungsschritte« hin zu einer ganzheitlichen Welterfahrung sah. Erst wenn die Sonne versinkt, so Steiner, kann sie als geistiges Kraftzentrum in uns aufgehen und uns dabei helfen, die Grenzen zwischen Mensch und Natur, Ich und Du, Tod und Leben als Illusionen eines verengten Weltbilds zu begreifen. Wie ernst es Sieverding mit Steiners Lehre eines ganzheitlichen Kosmos ist, zeigt auch ihr 2013 entstandener Film Die Sonne um Mitternacht schauen SDO/NASA (BLUE): Für ihn verwendete sie blau eingefärbte NASA-Bilder von Sonneneruptionen, um Sonne und Erde (»der Blaue Planet«) symbolisch
miteinander zu verschmelzen. Sieverding selbst nennt dies »die Sonne durch die Erde hindurch imaginieren«.

In gewisser Hinsicht muss man die Goldporträts der Künstlerin wohl als anthroposophisches Glaubensbekenntnis verstehen. Allerdings nur in dem Sinne, dass sie Steiners Zweifel an den scheinbar unumstößlichen letzten Wahrheiten der modernen Weltsicht teilt. Sie fragte, ob die Welt wirklich nur ist, was wir sehen und verstehen können, und fand Ende der sechziger Jahre in der Fotografie ein Medium, das wie für sie gemacht schien: Einerseits schaltet der Fotoapparat das menschliche Auge aus, um es durch die Objektivität der Technik zu ersetzen; andererseits ließ sich die Fotografie auch schon im analogen Zeitalter auf vielfältige Weise manipulieren. In beiden Fällen zeigt die Fotografie Wirklichkeit anders, als wir sie kennen.

Die Goldporträts aus der Serie Die Sonne um Mitternacht schauen sind vielfach manipuliert. Sieverding spiegelte die einzelnen Aufnahmen, sodass uns jedes Gesicht auf unheimliche Weise zweimal anblickt; sie stellte von den Polaroids Kleinbildnegative her und vergrößerte diese auf 190 mal 125 Zentimeter; und sie blendete auf einem Teil der Serie je zwei Aufnahmen ihres Gesichts übereinander. Letzteres ist seit der Avantgardefotografie ein klassischer Hinweis darauf, dass niemand mit sich selbst identisch ist. In der ebenfalls 1973 entstandenen Transformer-Serie steht die Doppelbelichtung sogar im Zentrum des Werks: Hier legte Sieverding ihr eigenes Gesicht über das ihres Lebensgefährten Klaus Mettig und schuf so androgyne Mischwesen, die, wie die Goldmasken, durchaus menschlich, aber zugleich überindividuell erscheinen. Bei anderen Serien ließ Sieverding die »Magie« der Dunkelkammer noch viel deutlicher für sich arbeiten: Für den Stauffenberg-Block (1969) etwa belichtete sie die Negative so lange, bis sich die eigentlich dunklen Partien durch Überbelichtung aufhellen – der sogenannte Solarisationseffekt. Und weil
Bilder im chemischen Entwicklerbad der analogen Fotografie ganz allgemein wie Geister der Vergangenheit auf dem Fotopapier erscheinen, lässt sich Sieverdings titelgebende Identifikation mit dem Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg auch so erklären: Das Licht der Fotografie hebt die Geschichte in die Gegenwart.

KUNSTHALLE GIESSEN 2015: O. T. I, 1996, 300 X 500 CM (PIGMENTTRANSFER AUF METALL); DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN SDO/NASA (BLUE), 2010/13 (FILMPROJEKTION)

KUNSTHALLE GIESSEN 2015: O. T. I, 1996, 300 X 500 CM (PIGMENTTRANSFER AUF METALL); DIE SONNE UM MITTERNACHT SCHAUEN SDO/NASA (BLUE), 2010/13 (FILMPROJEKTION)

Zu einem gewissen Grad ist Sieverdings Neigung, der Fotografie eine »magische« Wirkung zuzuschreiben, sogar biografisch zu erklären: Ihr Vater war von Beruf Röntgenarzt, konnte also mithilfe unsichtbarer Strahlen feste Körper durchleuchten und deren Innenleben auf Fotoplatten bannen. In der anthroposophischen Bibliothek ihres Onkels stieß Sieverding dann auf viele Argumente dafür, dass es auch so etwas wie die nur mithilfe bestimmter Medien wahrnehmbare Ausstrahlung eines Menschen gibt; und schließlich fand sie an der Düsseldorfer Kunstakademie in Joseph Beuys einen Lehrer, der ganz offensichtlich ebenfalls an die Existenz einer menschlichen Aura glaubte. Auf ihren Selbstporträts versucht sie diese allerdings nur mit ästhetischen Mitteln zu reproduzieren: Statt farbige Energiewolken auf die Bilder zu zaubern, verlässt sie sich auf die Strahlkraft des menschlichen
Gesichts.

Mit ihren Selbstporträts schuf Sieverding eine perfekte Projektionsfläche für das, was sie selbst einmal »Anspruch auf Travestie« nannte. Auf ihren Bildern verliert das Subjekt seine Konturen, um in etwas Größerem aufzugehen – und diese Verwandlung versteht die Künstlerin als Einladung an die Betrachter, sich für besondere Erfahrungen zu öffnen. Gleichzeitig gab die Künstlerin der feministischen Selbstreflexion der siebziger Jahre mit ihren Fotoserien buchstäblich ein Gesicht und wurde so auch zur Ahnfrau für die Rollenspiele einer Cindy Sherman oder der aktuellen Selfie-Kultur. Und während andere Künstlerinnen im Körper einen glaubwürdigeren Zeugen sehen, weil sich dieser weder verstellen noch die Geschlechterdifferenz verleugnen kann, interessiert sich Katharina Sieverding weiterhin für die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Sie will wissen, was beim Augenkontakt geschieht, auch wenn sie den Blick auf ihren Goldporträts nach innen richtet. //

Lesen Sie diesen spannenden Artikel von Michael Kohler auch in der aktuellen Ausgabe der ART (03/2018).

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